Messen, Denken, Steuern
10.10.2007 Permalink Heute, liebe Leser, gibt's eine kleine Geschichte von Max und Theo. Und dann noch einige -- wie ich finde -- wertvolle Lehren daraus.Max hält sich für einen guten Softwareentwickler. Er kriegt so ziemlich alles hin, was man ihm aufträgt. Max kann auch gut erklären, wenn mal etwas nicht so klappt, wie er sich das vorgestellt hat. Sein Teamleiter, Theo, hat trotzdem seine Mühe mit Max. Denn wenn Max sagt, etwas koste fünf Tage, dann können das auch mal zehn werden. Theo muss dann seine Planung umstellen, was um das Planes Willen kein Thema wäre, allein, er muss anderen Kollegen im Team dann zusätzliche Aufgaben übertragen. Hinzu kommt, dass Max immer erst sehr kurzfristig Bescheid gibt, dass er "eine kleine Unschärfe" entdeckt hat. Wenn das kurz vor einer Lieferung an den Test passiert, dann bedeutet das schonmal für Max und mindestens einen Kollegen eine Nachtschicht, wofür die Kollegen um Max herum mit der Zeit nur noch wenig Verständnis aufbringen.
Das Problem bei Max ist eine schlechte Schätzqualität und -- zu schließen aus seinen späten Hilferufen -- eine etwas unbekümmerte Arbeitsweise. Beim Versuch von Theo, Max darauf anzusprechen, geht Max in die Details und nimmt die Kritik letztlich nicht an. Am Ende steht Meinung gegen Meinung und die Stimmung könnte besser sein.
Seit einigen Wochen schreibt Theo nun die jeweils geschätzten und tatsächlichen Tage für Aufgaben mit. Das kostet etwas Mühe, aber er will sich nicht nochmal mit "leeren Händen" in die Diskussion mit Max begeben. Bevor er damit angefangen hat, hat er dem Team das erklärt: er will kein schlechtes Bauchgefühl mehr, sondern versuchen, für alle Transparenz herzustellen. Die Zahlen legt er regelmäßig offen. Am Anfang gab es etwas Diskussion im Team, was jetzt alles zum Arbeitspaket gehört und ob z.B. Klogänge mitgezählt werden. Theo trifft pragmatische Verabredungen im Team: ihm kommt es auf Ausreißer und ein Gesamtbild der Schätzgüte an, nicht auf jede Minute.
Max ist nicht blöd. Er kann sich denken, dass Theo vielleicht auch seinetwegen so ein Controlling einführt. Aber an den Gründen, die Theo nennt, ist was dran. Er würde ungerne unangenehm auffallen, daher versucht er, sich im Vorhinein etwas besser zu überlegen, was alles in einer Aufgabe "drinsteckt", bevor er eine Zahl nennt. Eine Diskussion zwischen Theo und Max bleibt zunächst mangels Gründen aus.
Nach ein paar weiteren Wochen stellt Theo fest, dass zwar nur erstaunlich geringe Schätzabweichungen zu beobachten sind, aber dass z.T. haarsträubende Fehler im Test auftreten, die eigentlich jeder, der seine Ergebnisse gewissenhaft überprüft, selbst hätte finden müssen. Theo vermutet, dass diese Überprüfungen ausbleiben, aber schlimmer noch: dass die Kollegen "Fertig melden", um den Zahlen zu genügen, tatsächlich aber nicht so richtig fertig sind. Theo will daher "dagegen bauen", und er führt eine Qualitätssicherung ein. Bevor im Plan ein Haken an ein Arbeitspaket kommt, hat sich ein Kollege das Ergebnis angesehen und evtl. Fehler an den Bearbeiter gemeldet. In der darauffolgenden Zeit passieren zwei Dinge: es treten Ausreißer bei der Schätzgüte auf und die Qualität, die im Test ankommt ist sogar höher, als die Qualität vor der Einführung der Tagezählerei. Letzteres versteht Theo sofort, denn vorher gab es keine Reviews, ersteres kann er sich nur dadurch erklären, dass Nacharbeiten für leicht erkennbare Fehler jetzt vor Auslieferung an den Test im Team bearbeitet werden, wodurch die bisherige Produktivität zunächst auf ein geringeres Maß schrumpft.
Theo spricht mit vereinzelten Kollegen, unter ihnen auch Max, über die Ausreißer. Er lässt sich erklären, wie sie die Zahlen ermitteln, und versucht dann, Ihnen Tipps zu geben, wie sie allein durch Ausnutzung einfacher Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung bessere Vorhersagen abgeben können. Inbesondere betont er dabei, dass es ihm nicht um "nette Zahlen" sondern um verlässliche Aussagen geht. Dass er dabei Schwankungsbreiten erwartet und diese mit eigenen Puffern abzufangen versucht, erläutert er ihnen bei der Gelegenheit auch gleich.
Die Schätzgüte steigt daraufhin langsam. Ausreißer gibt es immer noch, aber sehr vereinzelt. Die Produktivität, obwohl sie als solche nicht gemessen wird, scheint gefühlt auch wieder besser zu werden. Theo erklärt sich das damit, dass Reviews zu einem besseren Austausch der Kollegen über Vor- und Nachteile bestimmer Lösungen führen, was die Codequalität hebt und damit auch Änderungen leichter macht.
Max ist mit der Situation zufrieden, nachdem er gelernt hat, etwas konservativer und gründlicher zu schätzen. Einige spitze Bemerkungen von Kollegen, die schonmal unter Max "sportlicher Arbeitseinstellung" leiden mussten, bleiben aus.
Das kurze Beispiel zeigt ein paar Effekte, die die Einführung von Messungen hat, und das sind meiner Ansicht nach folgende:
- Menschen richten ihre Arbeit an dem aus, woran sie gemessen wird. Eine eindimensionale Sicht (Schätzgüte) optimiert in dieser einen Dimension, wobei andere Dimensionen (Qualität) in Mitleidenschaft gezogen werden können.
- Die Einführung einer neuen Kennzahl kann schwer vorhersehbare Seiteneffekte mit sich bringen. Obwohl im Beispiel das Ziele eine Anhebung der Schätzgüte war, hat das Festhalten und Vergleichen des Ist-Aufwands zum geschätzten Aufwand dazu geführt, dass im Team der Ist-Aufwand an die Schätzwerte angepasst wurde -- und zwar unter Kompromitierung der Qualität. Beabsichtigt waren aber gewissenhaftere Schätzungen. Mit so etwas muss man rechnen, da ein Team ein komplexes System darstellt und die Messung eines einzelnen Aspekts bereits eine Stellschraube in diesem System dreht. Komplexe Systeme können selbst verstärkende Rückkopplungsschleifen und schwer durchschaubare, weil zeitlich lose gekoppelte, Ursache-Wirkungsverhältnisse besitzen. Glücklicherweise ist ein Team keine Blackbox: Theo kann mit jedem einzelnen reden, um Licht in die Zusammenhänge zu bringen.
- Kennzahlen zwingen dazu, den Qualitätsbegriff mit Substanz zu belegen. Die Diskussionen, die durch Kennzahlen im Team ausgelöst werden, sind sehr konkret. Der unscharfe, esoterisch angehauchte Qualitätsbegriff muss einem scharf gefassten weichen. Dass dieser freilich gerade am Beginn der Einführung von Messungen noch nicht adäquat ist, darf nicht vergessen werden.
- Die Arbeit mit Metriken erfordert in vielerlei Hinsicht Übung, daher muss man bei Einführung zunächst von einem Lernprozess der betroffenen Organisation ausgehen. Besonders wichtig ist dabei, dass mit Zahlenmaterial gewissenhaft und vertrauenswürdig umgegangen wird, und dieser Umgang -- ganz wichtig -- für alle Betroffenen offensichtlich ist.
- Kennzahlen können wie ein Filter wirken, der die Aufmerksamkeit der Fachführung auf die Ergebnisse oder Personen konzentriert, denen statistische "Ausreißer" zuzuordnen sind. Das erleichtert die Arbeit enorm. Allerdings sind sie stets nur ein Indikator. Sie verraten selten etwas über Ursachen und gute oder schlechte Gründe für eine Abweichung.
- So, wie Kennzahlen einen Filter schaffen, können sie auch für blinde Flecken sorgen, nämlich wenn aufgrund ausbleibender Abweichungen angenommen wird, dass es keine Probleme mehr gibt. Es kann durchaus sein, dass andere, durch die Kennzahlen nicht erfasste Schwierigkeiten vorhanden sind, oder sogar, dass aufgrund von Nachlässigkeit oder Angst Zahlen nicht korrekt erfasst werden. Daher sind inhaltliche Stichproben und persönliche Kommunikation weiterhin erforderlich.